Bewusstes Atmen

Das bewusste Atmen ist der absolute Klassiker unter den Hilfsmitteln. Leider wurde und wird in weiten Kreisen aus dem Atmen eine Wissenschaft und ein Dogma gemacht. Mir fällt dazu nur der großartige Tobias ein, eine Szene aus einem seiner letzten Shouds. Bei den Fragen & Antworten erwähnte jemand das Wort Atemlehrer. Tobias unterbrach und sagte: „Oh, ich wusste nicht, dass ihr Lehrer zum Atmen braucht.“

Was verstehe ich unter bewusstem Atmen? Genau das, was der Begriff sagt: sich seines Atems bewusst zu werden, sich seinen Atem bewusst zu machen. Mit anderen Worten: ich lenke meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem. Das ist alles.

Nun ist es so, dass der Atem umso Heil bringender ist, je tiefer er geht. Tief zu atmen bedeutet, weit in den Bauch hinunter zu atmen. Die Menschen atmen normalerweise flach. Der Atem endet im Lungenbereich, und der Mensch saugt nur sehr wenig Luft an, gerade genug, damit er überleben kann, aber viel zu wenig, um wirklich leben zu können. Dennoch würde ich nicht einmal empfehlen, vorsätzlich tief zu atmen. Denn wenn ein Mensch beginnt, bewusst zu atmen, wird der Atem im Lauf der Zeit ganz von selbst tiefer und immer tiefer. Da wird ein schöner Mechanismus des Lebens sichtbar. Kaum schenkt der Mensch sich selbst, dem Leben seine Aufmerksamkeit, dehnt es sich aus. Immer mehr Leben kommt in den Menschen. Er atmet tiefer und nimmt damit mehr Leben in sich auf.

Für alle Erwachenden, die noch eher am Anfang ihres Prozesses stehen und vielleicht noch nichts vom bewussten Atmen gehört haben, gebe ich hier eine kurze Einführung. Setze dich irgendwohin, wo du ungestört bist und Ruhe hast. Wähle einen gemütlichen Platz, mache es dir so bequem wie möglich. Deine Körperhaltung ist völlig egal, entscheidend ist nur, dass du dich wohl fühlst. Falls du dich schon mit Meditation beschäftigt hast, vergiss alles, was du da gelernt hast. Gerader Rücken, spezieller Sitz usw. ist alles unnötiger Krimskrams. Entscheidend ist nur dein Wohlbefinden, sonst nichts. Und wenn du so richtig bequem sitzt, beobachte deinen Atem. Nur beobachten, nicht mehr. Werde dir dessen gewahr, wie du ein- und ausatmest und wie du Pausen zwischen dem Ein- und Ausatmen machst. Verfolge den Weg deines Atems. Im Lauf der Zeit kannst du fühlen, durch welchen Bereich deines Körpers er gerade fließt. Vergiss dabei auch alle Regeln, wie lange ein Atemzug oder eine Pause sein sollte. Das ist alles Unfug.

Am Anfang kannst du auch als Unterstützung eine Hand auf deinen Bauch legen. So kannst du besser fühlen, ob und wie weit dein Atem in den Bauch hinunter geht. Einen anderen Zweck hat die Hand auf dem Bauch nicht, sie dient nur der Bewusstmachung. Sehr bald fühlst du auch ohne Hand, wie tief dein Atem geht.

Stelle dir beim Atmen nichts vor. Oft hört und liest man, man sollte etwas Bestimmtes ein- und etwas anderes ausatmen. Nichts davon, es geht nur ums Atmen. Es gibt auch nichts, was du durchatmen oder mit dem Atem auflösen sollst. Das Atmen ist am wirkungsvollsten, wenn es ohne Agenda geschieht. Es gilt dabei nichts zu erreichen. Nichts anzuziehen, nichts wegzustoßen, nichts durchzukauen, nichts aufzulösen, nichts, nichts, nichts. Es geht nur darum, dass du atmest und dass du es bewusst tust. Dass du dir im Lauf der Zeit dessen gewahr wirst, was der Atem alles mit dir anstellt. Und das ist immer eine Menge und immer das Richtige.

Anfängern empfehle ich, diese Übung bewusst und vorsätzlich einige Wochen oder einige Monate zu machen. Natürlich am besten täglich, aber wichtig ist, dass du dich zu nichts zwingst. Wenn du gerade wirklich keine Lust hast, lass es bleiben. Und mache die Übung so lange, wie du Lust dazu hast, wie es sich gut für dich anfühlt. Eine Minute oder zehn oder zwanzig – wer kann das schon sagen? Folge deinem Gefühl.

Warum gebe ich diese Empfehlung? Ich habe erfahren, dass ich einmal einige Zeit brauchte, um wirklich wahrzunehmen, was mein Atem alles bewirkt, wie er sich anfühlt. Wie befreiend, erlösend und reinigend er sein kann. Und genau dazu dient die Übung. Sie dient nicht dazu, schnell zu erwachen oder Probleme zu lösen. Sie dient nur dazu, sich seines Atems und seiner Wirkung bewusst zu werden. Ab diesem Punkt atmest du anders. Du atmest dann automatisch häufiger tiefer und bewusster. Du hältst öfter mal inne, um ein paar bewusste Atemzüge zu nehmen und ihre Wirkung zu spüren. Du merkst, wenn in bestimmten Situationen dein Körper ganz von selbst auf einmal Luft ansaugt, weil du gerade diesen tiefen Atemzug brauchst. Und dann und wann verspürst du Lust, dich jetzt wieder einmal zehn Minuten ruhig hinzusetzen und nur deinem Atem zu lauschen. Letztlich geht es darum, ständig tiefer und bewusster zu atmen, nicht nur in Ausnahmesituationen.

Der Atem bewirkt auf vielen Ebenen viele Dinge. Er ist hervorragend in der Lage, blockierte oder aufgestaute Energien zu lösen. Während des bewussten Atmens bist du nicht so sehr in deinem Verstand, wo du dich sonst üblicherweise aufhältst, denn deine Aufmerksamkeit ist ja bei deinem Atem. Versuche dennoch nicht, deine Gedanken irgendwie loszuwerden. Du hörst bloß auf, ihnen nachzuhängen. Lass deine Gedanken, sie sind halt da. Sie gehen auch wieder. Dann kommen wieder andere, und die gehen auch wieder. Dadurch, dass du weniger im Verstand bist, kann er sich ausbalancieren und muss nicht ständig unsinnigen Quatsch von sich geben. Dadurch kann sich auch alles andere ausbalancieren. Dein Körper, deine ganze Befindlichkeit, alle Energien. Letztlich ist es einfach so, dass du durch dass bewusste Atmen näher zu dir selbst kommst, zu deinem wahren Selbst. Und von diesem Punkt aus ist alles einfacher und klarer.

Oft vergessen auch fortgeschrittene Erwachende, in den notwendigsten Momenten bewusst zu atmen. Gerade in kritischen Situationen, wenn sie zB gerade Angst haben oder in Sorgen versinken, ist ihr Atem so flach, dass sie gerade nicht sterben. Diese kritischen Momente sind die, wo der Mensch voll in seiner Trennung ist, wo er sich seiner Göttlichkeit so überhaupt nicht bewusst ist, denn sonst hätte er keine Angst. Hier ist es besonders wichtig, zurück zu treten, Abstand zu nehmen und zu atmen. Da ist es dann wirklich so, dass sich binnen einiger Sekunden die Welt völlig ändern kann, wenn man ein paar bewusste, tiefe Atemzüge nimmt. Wie ich schon sagte, der Atem führt dich zu dir. Und dort verschwinden die Sorgen und die Ängste, dort gibt es keine Ausweglosigkeit.

Je länger jemand im bewussten Atmen geübt ist, desto kleinere Dosen genügen, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Bei mir genügt in der Regel ein einziger bewusster Atemzug, wenn ich gerade in eine getrennte Panik verfalle. Durch diesen Atemzug trete ich aus dieser menschlichen Falle heraus und komme wieder zu mir. Von dort aus antworte ich dann auf diese Situation, anstatt mittendrin mit alten und eingefahrenen menschlichen Mustern zu reagieren.

Und wenn du in einer Situation steckst, die länger anhält, die dich ratlos macht und alles aussichts- und ausweglos erscheinen lässt, dann mache wieder die Übung. Zehn oder 20 Minuten lang. So kommst du wieder ins Gleichgewicht, und nachher fragst du dich, worüber du dir vorher den Kopf zerbrochen hast.

Aus mittlerweile vieljähriger Erfahrung kann ich sagen, dass das Atmen wirklich Wunder bewirkt. Ob in einer spontanen Situation oder einem scheinbar festgefahrenen Zustand. Ich spüre, wie wohltuend sich ein Atemzug auf meinen Körper und mein ganzes Befinden auswirkt. Und währenddessen lösen sich plötzlich Probleme. Ich bin nach wie vor selbst jedes Mal wieder erstaunt.

Wichtig ist dabei der Punkt, den ich schon erwähnt habe: keine Agenda. Wenn du dich vor einem Problem siehst und dir sagst, ich atme das Problem jetzt weg, ich atme schnell zwei Minuten, um das Problem zu beseitigen, wird es nicht funktionieren. (Das gilt übrigens für alles in der Neuen Energie, keine Agenda.) Dein Zugang sollte eher der folgende sein: „Ich bin da in diesem Problem, in diesem Thema, und ich habe jetzt genug davon. Ich pfeif’ auf das Problem und gehe da jetzt raus. Ich geh jetzt zu mir, da ist es viel netter.“ Durch das Atmen gehst du zu dir und lässt Energien fließen, du atmest nur mit dem Ansinnen, bei dir zu sein. Du gewinnst Distanz und lässt dadurch den Dingen Raum, zu geschehen.

Idealer Weise kombinierst du das Atmen mit körperlicher Entspannung. Das geht ganz leicht und ganz schnell. Fühle deinen Schulter- und Nackenbereich. Der ist so gut wie immer etwas angespannt, weil dieser Bereich für die normale, aufrechte Körperhaltung gebraucht wird. Aber im gemütlichen Sitzen brauchst du diese Spannung nicht. Fühle diesen Bereich und die Spannung darin, und lass die Spannung los. Lass die Schultern fallen. Wenn du andere Bereiche im Körper hast, von denen du weißt, dass du sie notorisch anspannst, lasse auch dort die Spannung raus. Das Entspannen dauert keine Sekunde. Nur am Anfang etwas länger, weil deine Sensibilität für die Anspannungen noch nicht so ausgeprägt ist. Aber das ändert sich schnell. Die entspannte Haltung ist die Haltung des Erlaubens. Deine Schutzschilder sind heruntergefahren, du lässt geschehen, was geschehen soll.

Schließlich noch ein wichtiger Hinweis. Das Atmen fühlt sich jedes Mal anders an. Wenn du einmal so richtig wunderschöne Minuten beim atmen erlebt hast, bist du versucht, das wieder haben zu wollen. Doch beim nächsten Mal ist es anders. Lass deinen Wunsch los, es ist einfach jedes Mal anders. Wenn du das weißt, bist du nicht enttäuscht. Und dann bist du auch offen für andere Erlebnisse. Dann passiert es, dass das nächste Atmen auf eine ganz andere Art wundervoll wird, auf eine Art, mit der du nicht gerechnet hast.