Memento mori (2)

Vor ein paar Wochen kam mir wieder einmal der Gedanke, was wohl wäre, wenn ich sicher wüsste, dass ich am nächsten Tag sterben würde. Es war diesmal anders als damals vor elf Jahren, als ich zum ersten Mal darüber geschrieben habe. Es standen andere Aspekte im Vordergrund. Aber es war genauso schön.

Der erste Gedanke, der sich mir aufdrängte, war: es würde kein Hahn nach mir krähen. Es würde ziemlich lange dauern, bis überhaupt jemand mitkriegt, das Reiner Maria gestorben ist. Als erstes würden wohl aktuelle Klienten und andere Leute, die mir E-Mails schreiben, verärgert sein, weil sie keine Antwort von mir erhalten. Nach einiger Zeit würden sie dann die Sache ad acta legen. Meinen Nachbarn würde nichts auffallen, denen fällt jetzt schon nicht auf, dass in meiner Wohnung überhaupt jemand wohnt.

Nach etlichen Monaten wäre dann meine Website nicht mehr da. Der Webhoster würde sie zunächst sperren, weil ich die Rechnung nicht bezahlt habe, und nach einiger Zeit löschen. Überhaupt würden nach und nach Mahnungen für unbezahlte Rechnungen eintreffen. Das wahrscheinlichste Szenario wäre, dass über diesen Weg bekannt wird, dass ein toter Körper in meiner Wohnung liegt. Und das würde Monate dauern.

Irgendwo würde dann bekannt gemacht werden, dass ich nicht mehr unter den Erdenmenschen weile. Und vielleicht würde das irgendwer von den Menschen, die mich kannten, zufällig mitkriegen und es anderen erzählen, zB auf Facebook. Vielleicht. Und dann würden ein paar Menschen kurz trauern. Viele wären es nicht, denn ich habe nur wenige Beziehungen, und besonders bekannt bin ich auch nicht.

Mit anderen Worten, mein Körper würde einfach verfaulen, und niemandem würde es auffallen. Ich habe daran gedacht, mich zum Sterben auf eine Parkbank zu legen, damit mein Tod schneller auffällt und die Wohnung nicht total verstinkt. Und damit die paar Leute, die mir Rechnungen schicken, schneller davon erfahren. (Aber sogar da fallen mir im Moment nur drei ein.)

Diese Gedanken haben mich ein bisschen traurig gemacht. Aber nur ein kleines bisschen. Genau genommen haben sie MICH überhaupt nicht traurig gemacht, sondern mein Ego. Aber eben auch nicht viel. Es will halt gerne Aufmerksamkeit, hat sich aber schon daran gewöhnt, dass es nicht viel davon bekommt. wink ICH finde an diesen Gedanken und Gefühlen gar nichts traurig. Im Gegenteil, sie zeigen mir, dass ich mich maximal von dieser Welt entkoppelt habe, die zur Zeit ohnehin recht hässlich aussieht.

Verstehe mich nicht falsch, ich habe keine Todessehnsucht. Ich genieße das Leben immer mehr, nicht weniger. Da spreche ich aber von dem Leben in meiner neuen Welt. Die ist im Gegensatz zur alten Welt der anderen ziemlich schön. Und unabhängig von dem, was andere tun und denken.

Nach diesen traurigen Gedanken kam gleich etwas anderes zu mir: ich würde Spuren hinterlassen. Und diese Spuren sind gar nicht so unbedeutend. Genau genommen hinterlasse ich diese Spuren schon die längste Zeit, aber eben auch nach meinem physischen Tod. Es sind Spuren des Bewusstseins, Spuren im Bewusstsein. Natürlich, die Menschen, die diese Spuren wahrnehmen und ihnen folgen, würden nicht wissen, dass diese Spuren von mir sind. Sie würden überhaupt nicht realisieren, dass da überhaupt Spuren sind. Sie würden einfach subtil etwas spüren, dem sie nachgehen wollen. Das begrenzte, menschliche Bewusstsein funktioniert eben so.

Ich dachte an die Spuren und sah sie mir an. Ich war beeindruckt, sie sind sehr schön und sehr lebendig. Und da spürte ich wieder meine Liebe. heart Freilich, für das Ego ist es natürlich unbefriedigend, Spuren zu hinterlassen, die kein Mensch bewusst wahrnimmt. Aber das Thema Ego war zu dieser Zeit schon abgehakt. ICH freute mich, diese Spuren zu sehen.

Erst nach dem Nicht-Auffallen und den Spuren kamen dann die Gedanken, Bilder und Vorstellungen, die im Angesicht des nahen Todes so kommen.

Was gäbe es wohl aufrechtzuerhalten? Bei diesem Gedanken muss ich schon lachen, ohne den Tod vor Augen zu haben. Aber beim Gedanken an den morgigen Tod erst recht. Der lebende Mensch würde gerade einmal seine Website aufrechterhalten wollen. Was noch? Ich weiß es beim besten Willen nicht. Aber freilich dachte ich darüber nach, wie wichtig mir diese Website überhaupt ist. Und da fiel mir ein, dass ich da vor zwei, drei Jahren schon einmal hinein gefühlt habe. Und dabei habe ich festgestellt, dass ich sie ohne Probleme von heute auf morgen abschalten könnte. Und dann halt irgendetwas anderes tun.

Sorgen? Ja, was denn für Sorgen bitte? Welche Sorgen kann ein Mensch haben, der weiß, dass er in 24 Sunden nicht mehr lebt? Eventuell nur eine. Kriege ich jetzt sofort genug Wein irgendwoher, um diesen letzten Tag gebührend feiern zu können? Und wird es auch ein richtig erlesener Wein sein?

Gedanken an dieses erbärmliche Machtspiel der Regierungen. Echt jetzt? Ganz sicher nicht. Ich verschwende das bisschen Zeit, das mir noch bleibt, nicht für so einen Unsinn.

Was würde ich also tun? Anders als vor elf Jahren würde ich mich nicht hemmungslos betrinken und Frauen anbraten. Naja, vielleicht ein bisschen. sad Aber im Großen und Ganzen eher nicht. Ich würde den letzten Tag sehr bewusst verbringen. ICH, also die Seele, die ich bin, wäre sehr präsent. Sie wäre wahrscheinlich trauriger als der Mensch, weil sie hier im menschlichen Körper (endlich!) noch nicht alles erlebt hatte, was sie erleben wollte. Der Mensch, der ich auch bin, wäre wahrscheinlich erleichtert.

Dieses bewusste Sein genieße ich seit ca. einem Jahr jede Nacht vor dem Schlafengehen ca. zwei Stunden lang. Das ist wirklich schön. So ähnlich wäre dann mein letzter Tag. Ich würde ein bisschen umher wandern und mir alles in meiner Reichweite noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive ansehen. Ich würde vielleicht an paar fremde Menschen umarmen. Die wären dann wahrscheinlich recht konsterniert. „Sind Sie verrückt? Abstand halten! Womöglich haben Sie mich jetzt angesteckt!" Aber es wäre auch sicher jemand dabei, der sich freuen würde.

Ca. 15 Minuten vor Ablauf der Zeit würde ich mich zum Sterben hinlegen. Ich würde Abschied nehmen. Abschied von diesem schönen Leben auf diesem schönen Planeten. Und ich wäre neugierig darauf, wieder ausschließlich auf der anderen Seite zu sein.

Doch beim Abschiednehmen war noch was. Da war wieder dieses Gefühl vom vollen Leben auf der Erde. Gedankenlos, rücksichtslos, frei! Ich spürte die Lebendigkeit im Menschen. Und so wurde wieder einmal aus dem memento mori ein memento vitae. Der Gedanke an die eigene Sterblichkeit könnte jedem Menschen das Leben näher bringen. Das echte Leben, nicht das Aufrechterhalten illusionärer Konstrukte.

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