Memento mori

Gestern hat mich ein Buch dazu inspiriert, über den Tod nachzudenken. Memento mori, gedenke zu sterben, gedenke, dass du sterblich bist. Am späten Nachmittag dachte ich beim Lesen etwas darüber nach. Am Abend legte ich das Buch zur Seite und dachte weiter, schließlich schrieb ich in mein Tagebuch.

Was würde ich tun, wenn ich wüsste, dass ich morgen sterbe? Ich habe eine Zeitlang darüber nachgedacht, nichts hat so recht gepasst. Und dann kam die Antwort. Ich würde mich heftig betrinken. Vermutlich richtig heftig. Ich würde durchsaufen bis zu meinem Tod. Nach einer Zeit würde ich vielleicht versuchen, ein paar hübsche Frauen anzubraten. Auch wenn sie einen Freund oder Mann hätten. Ich bräuchte den Alkohol, um die Hemmschwelle zu überschreiten. Und den Tod. Und den Tod. – Das Schöne an diesem Trinken, an diesem Rausch wäre, dass ich keinen Kater hätte, ich hätte nur die schöne Seite des Trinkens.

Trotzdem war die Antwort erschreckend für mich. Ich hätte wirklich nichts Besseres zu tun, als zu saufen? So drücke ich meine Lebensfreude aus? Das ist ziemlich ärmlich. Gut, da wären noch die Frauen. Vielleicht hätte ich tatsächlich noch einmal Sex. Vermutlich würde niemand mit mir feiern.

Was würde ich tun, wenn ich am 22. 7. sterben würde? (Das ist der Tag, an dem ich aus meiner Wohnung raus muss und an dem sie ausgeräumt sein muss.) Ich würde keine Rechnungen bezahlen. Die Übergabe der Wohnung wäre mir egal, bzw. wie diese ablaufen würde. Ich würde vermutlich auch ziemlich viel trinken, aber nicht jeden Tag bis zum Rausch. Ich würde mich um nichts mehr kümmern. Nicht um shaumbra.at, nicht um das SCNE, nicht um den CC, nicht um Nicole, nicht um eine Wohnung, nicht um meine eigene Website und nicht um meine Bücher. Um nichts. Am ehesten würde ich noch zwei, drei Beiträge auf shaumbra.at schreiben. Ich wäre viel unterwegs, würde ein paar neue Dinge ausprobieren und würde mich täglich ein bisschen mehr trauen, vielleicht sogar alle paar Stunden. Ich würde fremde Menschen ansprechen, die ich interessant finde, vor allem Frauen natürlich. ;-)

Mein Selbstausdruck würde immer kühner, direkter und unverblümter. Ich würde meine Wünsche immer öfter und klarer zum Ausdruck bringen und nicht einmal ansatzweise einen Kompromiss eingehen. Und am 11. Tag würde ich feststellen, dass in den letzten 11 Tagen auf einmal sehr viel möglich wurde und sehr viel passiert ist. (Diese Erfahrungen habe ich schon oft gemacht. Frei nach dem Motto Frechheit siegt.) Und ich würde wissen, dass noch viel mehr möglich wäre. Und ich würde bereuen, dass ich nicht schon die ganze Zeit so gelebt und meine Zeit verplempert habe. Ich würde leben wollen.

In all den Szenarien würde ich nichts erledigen, bereinigen, in Ordnung bringen oder abschließen wollen. Wozu? Was erledigen? Dieser Gedanke tröstet mich. Ich hätte keinen Stress. Ich würde mich von niemandem verabschieden wollen.

Und wenn ich in einem Jahr sterben würde? Dann würde ich einen Großteil meiner Zeit wieder verplempern. Ich würde eine geraume Zeit weiter tun wie bisher. Ich würde Projekte verwirklichen wollen, Verpflichtungen nachkommen und meine bedingungslose Selbstverwirklichung wieder aufschieben. Das ist traurig! Je weiter der Tod in die Ferne rückt, desto lebloser wird das Leben.

Und warum tue ich all das nicht, was ich in den ersten beiden Szenarien beschrieben habe? Warum habe ich es nicht längst getan, längst damit begonnen? Aus Angst! Aus Angst vor den Konsequenzen, die ich dann auszubaden hätte. – Falsch. Von denen ich befürchte, dass ich sie auszubaden hätte.

Was gilt es zu erreichen? Was aufzubauen? Warum überhaupt etwas aufbauen? Wozu? Es gibt nichts zu erreichen. Es gibt nur leben oder nicht leben. Jetzt. Immer.

Ich meine, dies ist mit größter Wahrscheinlichkeit mein letztes Leben. (Das erfuhr ich schon, bevor ich den CC entdeckte. Und das gilt auch für viele Leser dieses Blogs.) Ich komme nie wieder zur Erde, ich kann nie wieder genießen, was es hier zu genießen gibt. Nie wieder. Und selbst wenn, wäre es auch egal. Ich würde ja bei der nächsten Ankunft doch wieder alles vergessen und gewissermaßen wieder von vorn anfangen. Und jetzt, in diesem Leben, ich weiß nicht, wann ich sterbe. Ich will mir nicht im Augenblick des Todes sagen, dass ich nicht gelebt habe, dass ich viel zu feig war, dass ich viel zu wenig genossen habe und viel zu blind war. Denn so wach bin ich, dass ich meine Blindheit sehen kann, meine Fallen, in die ich tappe. Ich kann sehen. Im Augenblick des Todes würde mir das alles in geballter Ladung bewusst, in allen Einzelheiten. Ich würde bedauern und noch einmal kommen wollen.

Wie viel Zeit schlage ich tot? Wie viel Zeit vergeude ich? Doch irgendwie das meiste davon.

Mein Problem mit Memento mori ist, dass mir der Tod keine Angst macht. Ein schmerzvolles Sterben macht mir Angst, aber nicht der Tod. Eine Sache vielleicht: Der Tod würde mir die verpassten Gelegenheiten vor Augen führen. Insofern macht er mir Angst. Aber eigentlich ist es das Leben, das mir Angst macht. Diese befürchteten unschönen Konsequenzen, die Dissonanz.

Wenn ich an den Tod denke, sind all die Gedanken weg, wie ich mein weiteres Leben gestalten will. Das ist sehr angenehm und befreiend. Keine Ziele, keine Wege, keine Prozesse. Nichts zu erreichen. Er bringt mich ins Jetzt.

Dies waren meine Aufzeichnungen. In meinen Gedanken war noch mehr. Das Bewusstmachen der eigenen Sterblichkeit, des eigenen Todes kann einem Menschen auf sehr einfache Weise die Bedeutung und die Schönheit des Lebens vor Augen führen. Und die eigenen Versäumnisse. Die blöden Irrwege, denen wir täglich nachlaufen.

Memento mori bedeutet in Wahrheit eigentlich Memento vitae, gedenke des Lebens. Ich habe beschlossen, mir meinen eigenen Tod zum Freund zu machen, ihn mir immer wieder und immer öfter bewusst zu machen, bis ich mir seiner ständig gewahr bin. Die Tatsache, dass ich meinen Tod in weite Ferne schiebe, bringt mich immer wieder in den Überlebens-Modus, entfernt mich vom Lebens-Modus. Das Nicht-Gewahrsein des Todes verstrickt mich in Kämpfe, in sinnlose Aktivitäten, in Verpflichtungen, in den Drang, etwas für die Zukunft aufbauen zu wollen, anstatt etwas abzubauen, nämlich Illusion um Illusion. Das Nicht-Gewahrsein des Todes macht das Leben komplizierter, Memento mori macht es einfacher.

Und dann dachte ich mir noch: Wie ist das mit meiner Göttlichkeit? Ich habe sie erkannt, ich bin mir ihrer bewusst, ich lebe mit ihr, immer besser, ich brauche sie nicht mehr zu suchen, sie ist da. Derselbe göttliche Mensch erkennt im Angesicht seines Todes plötzlich sein Nicht-Leben, macht sich seine Illusionen bewusst? Derselbe Mensch erscheint auf einmal gar nicht mehr so göttlich?

Ja, so ist es. Meine Göttlichkeit, meine bewusste Schöpferkraft, mein Selbstausdruck, meine Selbstliebe, meine klare Sicht haben sich zwar auch vor Memento mori ein großes Stück weiter entwickelt, doch das Bewusstmachen meines Todes zeigt mir, wo ich stehe. Das Erwachen, das Erkennen der Göttlichkeit ist nicht das Ende, es ist der Anfang! Wenn jemand glaubt, dass er nach seinem Erwachen ein rundum zufriedenes und harmonisches Leben in voller Erkenntnis und ohne Probleme leben würde, irrt er gewaltig. Das habe ich auch bereits in einem Blog geschrieben. In meinem Buch Spirituelle Revolution habe ich diesem Thema ein ganzes Kapitel gewidmet. Das Erwachen ist der Anfang der Reise. Viele Menschen bleiben rund um diesen Punkt stecken und gehen nicht weiter. Manche davon spielen sich von dieser Position aus als große Weise und Lehrer auf. Adamus hat dies als spirituelle Überheblichkeit bezeichnet.

Das Erwachen ist der Anfang, ab da geht’s erst richtig los. Wenn man weiter geht. Weiter. Es geht immer weiter. An diesem Punkt scheint es oft schwierig, weiter zu gehen, man kann leicht stecken bleiben. Aber für mich ist es weitaus unerträglicher, stehen zu bleiben, als über die Hürden des Weitergehens zu springen.

Memento mori. Was würdest du tun, wenn du mit Sicherheit wüsstest, dass du morgen streben würdest? Was, wenn dein Tod in einer oder zwei Wochen eintreten würde? Was, wenn in einem Jahr? Denke darüber nach. Länger als 10 Minuten, länger als eine Stunde. Denke wirklich darüber nach! Welche Bedeutung hätten dann deine alltäglichen und nicht alltäglichen Sorgen und Kämpfe? Welche Bedeutung hätten spirituelle Lehren und Glaubenssysteme? – Gar keine. Das Bewusstsein des Todes macht es dir leicht, wahr und falsch zu unterscheiden.