Das ewige Opferspiel

Letzten Mittwoch, den 10. 12., habe ich an einer Pressekonferenz teilgenommen. Es war die Pressekonferenz anlässlich des Gruft-Winterpakets. (Die meisten Leser werden nicht wissen, was die Gruft ist. Das ist die älteste und bekannteste Einrichtung für Obdachlose in ganz Österreich.) Viele Leser werden wissen, dass ich selbst mehrere Jahre obdachlos war und die Gruft ausgiebig kennengelernt habe. Mittlerweile gehört die Gruft zur Caritas, was in den ersten ca. zehn Jahren nicht so war. (Es gibt sie seit knapp 40 Jahren.)

Das Winterpaket besteht aus einem winterfesten Schlafsack und sieben warmen Mahlzeiten und kostet 70 Euro, wobei die warmen Mahlzeiten ein Schmäh der Caritas sind, denn in der Gruft gibt es für jedermann min. drei warme Mahlzeiten pro Tag. Der Schlafsack ist aber ein Qualitätsprodukt, der ist wirklich gut und sein Geld wert. Die Caritas ist eben wirklich gut und erfinderisch darin, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Immerhin ist sie eine Organisation der katholischen Kirche, und die tut das schon seit vielen Jahrhunderten, was u. a. zur Abspaltung der protestantischen Kirche und dem 30-jahrigen Krieg geführt hat.

Wiewohl die Existenz als Obdachloser insgesamt eher ein veritabler Horror für mich war, habe ich mit der Gruft selbst summa summarum gute Erfahrungen gemacht. Vor allem gibt es dort nach wie vor sehr gute Sozialarbeiter, was für einen obdach- bzw. wohnungslosen Menschen sehr hilfreich sein kann. Alle Mitarbeiter dort waren immer sehr freundlich und entgegenkommend zu mir. Also war ich sofort einverstanden, als ich gefragt wurde, ob ich an der Pressekonferenz teilnehmen würde. Ich weiß, dass die Auswahl von Teilnehmern durchaus nicht leicht ist, und die Leute in der Gruft froh sind, jemanden zu finden, der sich artikulieren kann, vor Publikum sprechen kann und ansonsten keinen Blödsinn macht. Und der verlässlich ist und zu seinem Wort steht.

Ich hatte natürlich ein Vorgespräch mit der Leiterin der Gruft, das für beide Seiten sehr angenehm und erfreulich verlief. Ca. eineinhalb Wochen später gab es ein zweites Gespräch mit einer Dame von der Presseabteilung der Caritas, die ebenfalls ausgesprochen freundlich war. Doch da gab es schon ernsthafte Auffassungsunterschiede. Ich sagte: „Ich bin kein Opfer, ich war es nie. Ich habe Entscheidungen getroffen, die letztlich so weit geführt haben. Ich bin mir jederzeit meiner Verantwortung für mein Leben bewusst. Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich.“

Autsch! Das klingt in der Ohren der Caritas völlig verkehrt! Dort hat man gefälligst ein Opfer zu sein, dem von den milden Gaben der allwissenden, heiligen Kirche geholfen wird. Dann gab es noch ein kleines Nebengespräch, in dem die Caritas-Dame die Meinung vertrat, dass „Superreiche“ höher besteuert gehören, dass sie einen Teil ihres Vermögens der Gesellschaft schuldeten. Dass diese Superreichen jede Menge Arbeitsplätze schaffen und erhalten, dass sie alleine gleich mehrere Wirtschaftszweige am Leben erhalten, wird von solchen Menschen immer außer Acht gelassen. (Der österreichische Vizekanzler forderte überhaupt die Enteignung von Red Bull. Ein Wunder, dass diese Firma noch nicht fluchtartig das Land verlassen hat und hier immer noch Steuern zahlt.) Für mich sind solche Gedanken natürlich blanker Energiediebstahl, den natürlich besonders die superreiche katholische Kirche seit ewigen Zeiten perfekt beherrscht.

Jedenfalls haben diese fundamentalen Auffassungsunterschiede von Caritas und mir dazu geführt, dass ich bei der Pressekonferenz nicht von Anfang an am Podium bei den anderen gestanden bin, wie ursprünglich angedacht, sondern gar nicht. Ich habe nur im Anschluss an die PK Einzelinterviews mit interessierten Journalisten geführt, wobei ich von mehreren Kameras gefilmt wurde und unter Dauerbeobachtung verschiedener Caritas-Mitarbeiter stand. Ich habe über die Gruft, nicht über die Caritas gesprochen. Zwischen Gruft und mir wäre es auch nicht zu diesen unterschiedlichen Auffassungen gekommen, und alles wäre anders verlaufen. Macht aber nichts, denn dieses wirklich grausliche Bewusstsein der Caritas gehört auch ans Licht des Bewusstseins.


Die Pressekonferenz selbst war für mich nahezu unerträglich. Es gab in einer geballten Ladung Opferbewusstsein, Opferbewusstsein und Opferbewusstsein. Das ist für einen erwachten Menschen, der alles sieht und alles weiß, nur über eine sehr kurze Zeit auszuhalten. Und was geht immer Hand in Hand mit Opfern? Energiediebstahl. Jedes Opfer stiehlt mehr Energie als jeder durchschnittlich schlafende Mensch. Opfer erpressen andere emotional, und Massen von normal Schlafenden können sich dem Kaum entziehen. Ich schon, deshalb reagieren Opfer so fuchsteufelswild auf mich. Sie kriegen keine energetische Nahrung von mir. Jeder Mensch, der die Verantwortung für sich selbst übernommen hat, kriegt von mir alles, was er braucht, und mehr. Ich bin nicht geizig, aber bestehlen lasse ich mich nicht.

Ursprünglich wollte ich über diese Pressekonferenz gar nicht schreiben, sie schien mir viel zu uninteressant und unwichtig. Aber nach ein paar Tagen nagte das in mir, dieses verdammte Spiel der Opfer. Und so schreibe ich nun doch darüber.

In meiner Zeit als Obdachloser in der Gruft (Mitte 2013 – Anfang 2017) habe ich unzählige Opfer kennengelernt. Sie erzählen die buntesten Geschichten und lügen das Blaue vom Himmel. Alle. Man hört kein wahres Wort. Nur einige pfeifen drauf und gehen auf die Straße, anstatt in diesem Meer aus Lügen und emotionalen Nötigungen zu leben. Ein paar Wenige machten weder das Eine noch das Andere, sondern kamen zu mir. Bei mir gab es wenigstens ein offenes Ohr und Verständnis, wirkliches Verständnis. Natürlich habe ich kein Honorar verlangt von den verzweifelten Menschen, die sich nicht einmal eine halbe Stunde bei mir leisten hätten können.

Nachdem dieser Alptraum von Obdachlosigkeit, Notschlafstellen und teilweise auf der Straße vorbei war, habe ich bemerkt, dass nicht nur Obdachlose, sondern alle schlafenden Menschen mit Vorliebe dieses ewige Opferspiel spielen. Das heißt, ich habe es wieder bemerkt, denn vor 2013 habe ich es auch gesehen, wenn auch nicht so deutlich. Nun sah ich es mehr als deutlich. Immer und immer wieder sind die Umstände schuld, andere Menschen, die Familie, irgendwelche Systeme, die Inflation, ein unbekannter Gott, das Schicksal und was weiß ich was alles. Und alle stehlen Energie, so gut sie können. Nur selbst für sein Leben verantwortlich ist niemand. Außer meinen Klienten natürlich, die sind wirklich eine besondere Art von Menschen, die ich liebe.

Die anderen lieben ihre Opferrolle. Wirklich, sie lieben sie. Sie lieben sie so sehr, dass ihnen Selbstverantwortung eine Höllenangst einjagt. Da könnten sie dann tun, was sie wirklich wollen, doch das macht ihnen Angst. Da bleiben sie lieber Opfer. Was für eine Komfortzone!

Von den Schlafenden gibt es auch andere, die aber eine kleine Minderheit sind. Nämlich die, die keine Opfer sind, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Die werden von der großen Mehrheit als skrupellos, wenn nicht als bösartig wahrgenommen. Dabei tun sie nichts anderes, als nicht im Massenbewusstsein zu schwimmen und die irrwitzige Menge an brach liegender Energie für sich zu nutzen. Sie brauchen Energie nicht einmal zu stehlen, es ist mehr als genug für sie da. In der Regel sind diese Menschen reich. Von den Opfern werden sie insgeheim bewundert. Die Opfer würden das zwar strikt verneinen, aber sie würden auch so gerne nach ihren eigenen Regeln leben, nicht nach den Regeln anderer.

Von diesem Blickwinkel gesehen gibt es nur zwei Arten von Menschen. Nämlich Schöpfer (kleine Minderheit) und Opfer (große Mehrheit). Was ich an den Opfern wirklich nicht mag, ist das Ablegen, ja Zurückweisen jeder Verantwortung für sich selbst. Ich könnte so nicht leben, schon sehr lange nicht mehr und nie mehr wieder.


Nun nehme ich einen Strang meiner heutigen Erzählung und führe ihn fertig. Das ist nur eine persönliche Sache, also nicht besonders interessant für andere. Ich will es aber fertig bringen. Von Anfang 2017 bis Anfang 2023 hatte ich nichts mit der Gruft zu tun. Anfang 2023 waren meine Einnahmen wieder aus dem Nichts auf Null gesunken, was dazu geführt hat, dass ich meine Wohnung verlassen musste. Also war mein erster Weg in die Gruft. Wieder habe ich einen sensationell guten Sozialarbeiter erwischt, mit dem ich locker und einfach alles besprechen und ein paar notwendige Dinge erledigen konnte. Da war er wieder, der Grund, warum ich mich so gerne an die Gruft wende, wenn es eng wird. Ich habe auch gleich einen Platz in einer Notschlafstelle bekommen. Im Mai war das wieder vorbei, es kamen wieder Bestellungen, ich zog in ein Hotel. Im Oktober 2024 waren die Einnahmen wieder aus, ich wandte mich wieder an diesen Sozialarbeiter, der noch immer sensationell gut war.

Ab November 2024 war ich in einer Luxus-Notschlafstelle, in der es nur Einzelzimmer gibt und ich mit Essen versorgt wurde. Ich hatte Ruhe und meinen eigenen Raum. Nicht viel schlechter als ein Hotel. Ich brauchte trotzdem Zeit, um mich zu sammeln und gründlich zu hinterfragen, was da los war in mir. Denn, wie gesagt, die Verantwortung liegt bei mir.

Nun ist Dezember 2025, und ich bin immer noch hier. Ich habe wirklich lange gebraucht, um das alles nicht völlig abzulehnen und es zu akzeptieren, wie es ist. Vor wenigen Monaten habe ich zu mir gesagt: „Gut. Ich nutze die Zeit hier, um in mir aufzuräumen, das Leben zu genießen, nichts zu wollen und mich im Vertrauen zu üben. Immerhin ist es ganz schön komfortabel.“ Ich habe Einnahmen, seit Monaten, die halt ziemlich niedrig sind.

Nun, wahrscheinlich denken sich Manche, dass das alles ziemlich armselig ist. Ich aber sehe, dass ich vom Anfang meines Erwachensprozesses bis heute nichts anderes gemacht habe, als mich auf die Seele, die ich bin, zu verlassen. Ausschließlich. Das dazu nötige Vertrauen war mal da und mal nicht. Wenn es da war, lief alles gut, wenn es nicht da war, lief nichts gut. Irgendwann kommt der Tag, an dem ich sage: „Ich hab’s!“ Und dann werden viele Menschen dankbar sein für den Pfad durchs innere Dickicht, den ich geschlagen habe. Bis dahin können Menschen die vielen anderen Pfade, die ich geschlagen habe, nutzen. Oder auch nicht, wie sie wollen.