Du erlaubst?

Vorgestern (am 1. 1.) habe ich zum ersten Mal gefühlt, was das Wort Erlauben bedeutet. Das mag dir vielleicht komisch vorkommen. Mir fällt dazu eine Begebenheit ein, die Erich Fromm in seinem Buch „Authentisch leben“ beschreibt. Eine Frau erzählt ganz aufgeregt: „Heute habe ich zum ersten Mal Erbsen rollen sehen!“ Ihre Freundin sieht sie verständnislos an. Das ist doch etwas ganz Normales und Alltägliches, denkt sie. Jeder hat schon zig Mal Erbsen rollen sehen.

Was die Frau sagen wollte, war, dass sie sich an diesem Tag zum ersten Mal des Rollens der Erbsen gewahr wurde. Das ist etwas ganz anderes, als verstandesmäßig zu erfassen, dass Erbsen rollen. Ich wurde mir vorgestern der Bedeutung des Wortes Erlauben gewahr. Genauer gesagt: Ich fühlte die Energie der Aussage „Ich erlaube mir etwas“. Zum ersten Mal in diesem Umfang und in dieser Qualität.

Die Energie eines Wortes oder eines Satzes ist viel mehr als das Wort selbst. Das Wort alleine bedeutet herzlich wenig und dient nur dazu, dass der Verstand etwas abspeichern und wiedergeben kann. Das Wort weist nur auf die wahre Bedeutung hin. Man kann sie nicht rational verstehen oder analysieren, man kann sie nur fühlen.

Um „Ich erlaube mir“ wirklich verstehen zu können, musst du zuerst vollständig erkannt und akzeptiert haben, dass sämtliche Vorschriften und Regeln, nach denen du lebst, ausschließlich von dir selbst kommen und nur durch dich existieren. Und dass es unzählig viele dieser Vorschriften in dir gibt. Nun wendest du vielleicht ein, dass ja andere Menschen die ganzen Vorschriften machen, zB der Gesetzgeber. Er hat bestimmt, dass du bei Rot nicht über die Straße gehen darfst. Diese externe Vorschrift bewirkt für sich alleine aber gar nichts. Du musst diese Vorschrift akzeptieren, damit sie leben kann. Es ist eine Instanz in dir, die dir sagt, bei Rot stehen zu bleiben.

Doch die allermeisten Vorschriften, die du hast, entstanden nicht durch externe Regeln. Wer schreibt dir vor, zum Frühstück Kaffe zu trinken, danach zu duschen, um 23h schlafen zu gehen, Wein aber kein Bier zu trinken, eine bestimmte Haarfarbe oder Frisur zu tragen, den einen Menschen zu mögen und den anderen nicht, auf eine bestimmte Art über dich selbst zu denken usw. usf.? Niemand außer dir selbst. Kannst du dir erlauben, den schrulligen Arbeitskollegen ab heute zu mögen, ihn anders zu sehen als bisher? Oder hältst du an deiner Vorschrift und deiner alten Sichtweise fest?

Mein Anlass, „Ich erlaube mir“ zu fühlen, war banal. Ich ging spazieren und kam an einem netten Café vorbei. Dabei dachte ich mir, ich gönne es mir jetzt, da hinein zu gehen und etwas zu trinken. Ich hatte ein, zwei Vorschriften in mir, die mir das in dieser Situation verboten. (Es hatte nichts mit Silvester zu tun. Ich war absolut nüchtern und ausgeschlafen.) Doch ich dachte, ich beginne das neue Jahr damit, mir etwas zu gönnen. Dieser Gedanke gefiel mir. Als ich an der Bar stand und genüsslich ein Glas Wein trank, entstand etwas. Ein Gefühl fand den Weg ins Bewusstsein und drückte sich in Gedanken aus. „Was heißt hier gönnen? Ich erlaube mir das!“

Es ist ein himmelhoher Unterschied zwischen gönnen und erlauben. Ich kann etwas tun, obwohl ich es mir nicht erlaube. Wie ein Kind, das eine Zigarette raucht, obwohl es die Eltern verboten haben. Viele Menschen, die abnehmen oder sich „gesund“ ernähren wollen, kennen das aus ihrem Essverhalten. Sie gönnen sich die süße, fette Torte, obwohl sie es sich nicht erlauben. Die innere Vorschrift bleibt bestehen, sie wird lediglich umgangen. Was sich da in einem Menschen abspielt, ist nicht weniger als ein Kampf. Ein Kampf gegen sich selbst. Kannst du diesen inneren Kampf fühlen? Dann kannst du auch fühlen, was es bedeutet, ihn aufzugeben. Dir selbst etwas zu erlauben, bedeutet, die Vorschrift aufzugeben, fallen zu lassen, und dich sein zu lassen, wie du bist und sein möchtest. Das ist befreiend!

Die Menschen engen sich ihr Leben lang selbst ein, durch ihre eigenen Vorschriften und Regeln. Sie erlauben sich nicht, etwas anderes zu tun. Sie erlauben sich nicht, sie selbst zu sein. Das macht sie unfrei und lässt sie sich nach Freiheit sehnen. Nicht wissend, dass nur sie selbst es sind, die sich die gewünschte Freiheit geben können.

Jedes Mal, wenn du dir etwas erlaubst, und nicht einfach nur gönnst, öffnest du eine kleine Schleuse in dir. Durch diese Schleuse kann deine Energie fließen. Nicht irgendeine Energie, sondern deine eigene, wertvolle und kostbare Energie. Dein Du, dein wahres Selbst. Solange du deine Schleusen geschlossen hältst, bleibst du in einem Gefängnis eingesperrt, dessen Wärter du selbst bist.

Nachdem ich die Energie von „Ich erlaube mir“ gefühlt hatte, schaute ich auf mein Leben. Mir fiel auf, dass ich mir in den letzten Jahren schon sehr viel erlaubt habe. Ohne dass es mir in vollem Umfang bewusst wurde. Es war mir nur halb bewusst, meine Wahrnehmung war noch stark vom Verstand beeinflusst. Mir fiel aber auch auf, dass ich mir vieles, was ich getan hatte, nicht erlaubt hatte. Wann immer ich mir etwas gönnte, ohne es mir zu erlauben, hatte ich ein kurzes Glücksgefühl, und das war’s dann auch. Es bewegte sich nichts. Doch immer wenn ich mir etwas erlaubte, kamen Dinge in Bewegung. So auch vorgestern. Wenn sich viel Energie in mir bewegt, merke ich das zunächst immer daran, dass ich sehr müde werde. Es ist keine Müdigkeit aus Anstrengung, sondern eine sehr angenehme Müdigkeit. So, wie wenn ein Großstadtmensch einen ganzen Tag in frischer Landluft verbringt. Darüber hinaus änderte sich meine Sicht auf die Welt, also mein Leben. Eine tiefe Freude kam auf. Das sind aber erst die Anfänge der Bewegung und Veränderung. Die volle Auswirkung zeigt sich erst in den kommenden Tagen und Wochen, soferne ich die Schleuse nicht wieder schließe.

Ich möchte alle Menschen, die sich angesprochen fühlen, ermuntern ihre Vorschriften zu erkennen, sie zu fühlen, ihre Kämpfe zu fühlen, und sich jeden Tag etwas mehr zu erlauben. 

Glossar

Kommentare

Lieber Rainer, vielen Dank. 

Ich war ja froh, dass ich lernte, mir zu gönnen ... und jetzt das ... ist das wirklich so? Hat nicht doch jeder sein eigenes Wort-Repertoire ? Ich dachte und fühlte "sich gönnen" sei frei und genüsslich und also folglich ein Akt der Selbstliebe und war so froh, das endlich zu können ...   LG  Alice 

 

 

Liebe Alice,

ja, sich etwas zu gönnen und sich etwas zu erlauben sind zwei verschiedene Dinge, egal, wie du sie nennen magst. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken, du wirst es selbst fühlen. :-)

LG, Reiner

Vielen Dank Reiner, dass du mir die Möglichkeit gibst, durch deine Worte mich tiefer zu erfahren und so Stück für Stück den Kampf in mir abzubauen, um so hinter die Fassade des Lebens zu schauen.