Meine (neue) Mutter

Letzte Nacht träumte ich, ich hätte eine andere Mutter bekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass ich nicht der Sohn meiner vermeintlich leiblichen Mutter war. Mein Vater hatte mich mit einer anderen Frau gezeugt, die aber aus irgendwelchen Gründen verschwunden war. Die Mutter, die mich großzog, nahm mich als ihren Sohn auf. Meine Eltern verheimlichten mir die ganze Zeit, dass meine Mutter nicht meine Mutter war.

Sie erzählten es mir auch nicht jetzt. Ich hatte auch keine Nachforschungen angestellt. Ich weiß nicht, wie im Traum die Wahrheit herauskam, sie war einfach da. Meine wirkliche Mutter war so alt wie ich, ich war dem entsprechend jünger. Sie war eine bekannte Schriftstellerin, das, was ich gerne sein möchte. Ein Buch von ihr wurde verfilmt, und sie spielte selbst die Hauptrolle. Im Zuge dieser Verfilmung kam sie in meine Gegend, und plötzlich war die Wahrheit da. Ich wusste, dass sie meine Mutter war, sie wusste, dass ich ihr Sohn war, meine Eltern wussten, dass sie nicht länger lügen konnten.

Es war alles völlig emotionslos, oder besser gesagt, ohne Drama. Ich war nicht sonderlich gerührt, ich nahm einfach meine neue Mutter an. Naja, etwas gefreut habe ich mich schon. Meine alte Mutter war nicht am Rande eines Nervenzusammenbruchs, wie das sonst ihre Art gewesen wäre. Meine neue Mutter erlebte keinen Gefühlssturm anlässlich der Tatsache, ihren Sohn gefunden zu haben. Alles war einfach wie es war.
Ich war etwas erleichtert, denn auf eine gewisse Art litt ich unter meiner alten Mutter.

Ins reale 3D-Leben. Meine Mutter, die vor etlichen Jahren gestorben ist, war der Idealtyp des Opfers. Ich lernte von ihr so manche Opferhaltung, obwohl ich sie ablehnte. Ich mochte die Opferhaltungen meiner Mutter gar nicht und litt darunter. Trotzdem ist mir – verstärkt nach ihrem Tod – aufgefallen, wie viele Opferhaltungen ich von ihr übernommen hatte. Als richtiges Opfer hat meine Mutter natürlich ausgiebig Energie von mir gestohlen, wie auch von allen anderen Familienmitgliedern. Wir litten alle darunter. Sie stand immer als der gute, arme Mensch da. Sie war ja so aufopfernd – und erhielt nicht den gebührenden Dank. Umso stärker wurde ihre Opferrolle. Wir Kinder standen natürlich immer auf der Seite des guten Menschen. Im Vergleich dazu stand mein Vater wie der schlechte Mensch da. Heute sehe ich klar, wie verzweifelt er versucht hatte, mit dem Opfertum meiner Mutter entweder umzugehen oder daraus zu entfliehen.

Manchmal spürte ich meine Mutter. Nicht als Wesen, das noch immer anwesend war, sondern in Denk- und Verhaltensweisen von mir. Und ich wünschte mir, ich hätte diese Muster nicht übernommen. Erst jetzt, nach meinem Traum und während des Schreibens, wird mir immer klarer, wie sehr ich unter der Opferhaltung meiner Mutter bis heute leide.

Ich assoziiere mit dem Wort Mutter die feminine Energie schlechthin. Die nährende, alles akzeptierende, bedingungslos liebende Energie. Die Energie, die einfach da ist und halten möchte, die nichts anstrebt und niemanden in eine Richtung drängen möchte. Diese Energie hatte ich bei meiner Mutter nicht gespürt. Sie war eben das Opfer und wollte meine Energie. Bis heute? – Ich weiß es nicht.

Meine neue, wirkliche Mutter aus dem Traum war ganz anders. Eine selbständige Frau mit viel Kraft, ein Mensch, der niemanden verändern und von niemandem etwas nehmen möchte. Trotzdem sanft. Natürlich erschien mir im Traum meine neue Mutter schöner als meine alte.

Ich weiß noch nicht so recht, was mein Traum zu bedeuten hat. Hat sich meine leibliche Mutter nun aus meinem Energiefeld zurückgezogen? Habe ich sie entlassen? Habe ich Platz gemacht für feminine Energie? Oder war mein ganzer Traum nur der Ausdruck eines Wunsches? Ich weiß es nicht, noch nicht. Ich weiß nur, dass jeder Traum real ist, auf einer anderen Ebene. Und ich weiß, dass ich in den letzten Jahren glaubte, ich hätte mich längst von meiner Mutter getrennt, dass das aber nicht ganz gestimmt hat. Ich weiß, dass ich mir die Trennung wünsche. Ich weiß, dass mein Traum zumindest ein Schritt in diese Richtung war.

Und ich weiß, dass ich mich mit meiner neuen Mutter auf Anhieb wohl gefühlt habe.